back

‘ Fussgänger / passing by ‘

Wissen Sie, daß ich hartnäckig und zäh im Kopf arbeite und oft vielleicht im besten Sinne tätig bin, wo es den Anschein hat, als ob ich ein gedankenlos wie arbeitslos im Blauen oder Grünen mich verlierender, saumseliger, träumerischer, träger, schlechten Eindruck weckender Erztagedieb und Mensch ohne Verantwortung sei?

Geheimnisvoll schleichen dem Spaziergänger allerlei Einfälle und Ideen nach, derart, daß ermitten im fleißigen, achtsamen Gehen stillstehen und horchen muß, weil er, über und über von seltsamen Eindrücken, Geister-Gewalt benommen, plötzlich das bezaubernde Gefühl hat, als sinke er in die Erde hinab, indem sich vor den geblendeten, verirrten Denker- und Dichteraugen ein Abgrund öffne. Der Kopf will ihm abfallen. Die sonst so lebhaften Arme und Beine sind wie erstarrt. Land und Leute, Töne und Farben, Gesichter und Gestalten, Wolken und Sonnenschein drehen sich wie Schemen rund um ihn herum; er fragt sich:
,Wo bin ich ?‘
Erde und Himmel fließen und stürzen in ein blitzend übereinanderwogendes, undeutlich schimmerndes Nebelbild zusammen. Das Chaos beginnt und die Ordnungen verschwinden. Mühsam sucht der Erschütterte seine Besinnung aufrechtzuhalten; es gelingt ihm. Später spaziert er vertrauensvoll weiter. Halten Sie es für ganz und gar unmöglich, daß ich auf solcherlei geduldigem Spaziergang Riesen antreffe, Professoren die Ehre habe zu sehen, mit Buchhändlern und Bankbeamten im Vorbeigehen verkehre, mit Sängerinnen und Schauspielerinnen rede, bei geistreichen Damen zu Mittag speise, durch Wälder streife, gefährliche Briefe befördere und mich mit tückischen, ironischen Schneidermeistern wild herumschlage? Dies alles kann immerhin vorkommen, und ich glaube, daß es in der Tat vorgekommen ist.

Den Spaziergänger begleitet stets etwas Merkwürdiges, Phantastisches, und er wäre töricht,wenn er dieses Geistige unbeachtet lassen wollte; doch das tut er keinesfalls, vielmehr heißt er alle eigentümlichen Erscheinungen herzlich willkommen, befreundet, verbrüdert sich mit ihnen, macht sie zu gestaltenhaften, wesenreichen Körpern, gibt ihnen Seele und Bildung, wie sie ihrerseits auch ihn beseelen und bilden.

Kurz und gut: Ich verdiene mein tägliches Brot durch Denken, Grübeln, Bohren, Graben, Sinnen, Dichten, Forschen, Untersuchen und Spazieren so sauer wie irgendeiner. Indem ich vielleicht die allervergnügteste Miene schneide, bin ich höchst ernsthaft und gewissenhaft, und wo ich weiter nichts als schwärmerisch und zärtlich zu sein scheine, bin ich ein solider Fachmann. Darf ich hoffen, Sie durch dargebrachte eingehende Aufklärung von offenbar ehrlichem Streben vollauf überzeugt zu haben?
Robert Walser ‚Der Spaziergang’